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Rache und Wieder-Gut-Machung


Prof. Ruß, feiner Mann, ruhige Stimme, bittet dringend um Hilfe: Seine Enkelin lebt bei ihm, weil sie kostenlos bei ihm wohnen kann, während sie studiert. Sie möchte Journalistin werden und das macht ihm Kummer, denn sie wollte ursprünglich Biologie studieren. Kummer macht ihm aber vor allem, dass sie nie zu Vorlesungen zu gehen scheint und fast jede Nacht unterwegs ist.

Dazu schwieg er bisher, weil „ich meine Tochter damals verlor, als ich zu sehr ihren Berufsweg mitbestimmen wollte“. Nun müsse er sich aber einmischen: Sie ist schwanger und will übermorgen zur Abtreibung gehen. Und bevor er etwas Falsches sage, wolle er wissen, wie er möglichst alles richtig macht. Je länger wir reden, desto unsicherer wird er („wegen der Geschichte mit meiner Tochter“) und fragt, ob wir nicht zu ihm kommen könnten. So kommt es zum (hier deutlich gekürzten) Dialog: Sina sieht man die Übernächtigung an: Schwarze Augenringe, unruhige Hände, mager und aggressiv. Erstaunt fragt sie, wer wir seien und Prof. Ruß erklärte, dass wir seine Gäste sind. Bevor es in die falsche Richtung gehen kann, beginnen wir unverzüglich mit dem Thema: „Wir haben gehört, dass Sie schwanger sind. Herzlichen Glückwunsch dazu!“ Wie erhofft, zeigt sie heftig Widerstand: „Da gibt’s nix zu gratulieren, übermorgen mache ich es weg!“ Und Prof. Ruß schiebt sofort nach: „Mach' das bitte nicht, das ist ein Kind! Ein Mensch, mein Urenkelkind. Bitte!“ „Ja“, giftet Sina, „Du willst mich lenken und zwingen, so wie Du meine Mutter gezwungen hast, mit mir nicht!“ Tränen auf Seiten des Großvaters: „Dafür habe ich mich schon so oft entschuldigt und es stimmt, damals habe ich einen furchtbaren Fehler gemacht. Aus Dummheit, aus Arroganz oder aus verletztem Stolz, was weiß ich nicht alles. Aber ...“ Hier unterbrechen wir und gehen in medias res. „Was finden Sie angesichts der schweren großväterlichen Schuld für angemessen: Dass er sich noch Monate bei seiner Tochter entschuldigt oder sollten das eher noch Jahre sein?“ „Das wird NIE verziehen!“ Sie verzog angewidert ihr Gesicht. „Wie kommt es dann, dass Sie beim Großvater leben? Wäre es nicht richtiger, ihn durch Abwesenheit zu bestrafen?“ „So kann ich ihm Geld aus der Tasche ziehen, damit er blechen muss, da ist er mehr gestraft!“ Dem widerspricht er: „Aber Du bestrafst mich nicht, ich freue mich, dass Du hier bist und dass wir zusammen leben, auch wenn ich oft nicht weiß, wie ich mich richtig verhalten soll!“ „Das wussten Sie, nicht wahr? Sie wussten, der Großvater ist einsam und hier kann ich einziehen und dann so tun, als würde ich ihn damit bestrafen. Sie wussten, dass er sich freut, sehr sogar, und dass Sie gleichzeitig Verwirrung bei ihm stiften, wenn Sie so leben, wie Sie es derzeit tun?“ Sina schaut ihn nicht an, nickt aber. „Warum so kompliziert? Sie könnten doch hergehen und ihn um Geld erpressen und behaupten, das sei eine Wiedergutmachung? Aber sooo plump wollten Sie das nicht machen, weil Sie ja demonstrieren müssen, dass SIE ein besserer Mensch sind als der Großvater. ... Warum also sind Sie hier?“ Sina lehnt sich wütend zurück und schweigt. „Ich will Ihnen sagen, warum Sie hier sind: Sie sind hier, weil Sie den Großvater vermisst haben und weil sie ihn lieben, und weil Sie irgendwann genug davon hatten, wie schlecht Ihre Mutter von ihm redete.“ Sina schaut uns stumm in die Augen, kurz zum Großvater, dann gleich wieder weg. „Aber DAS wollen Sie natürlich nicht zugeben – und so verbinden Sie beides miteinander: Statt Biologie zu studieren, wollen Sie plötzlich Journalistin werden, statt in Vorlesungen zu gehen, hängen Sie herum und provozieren Streit mit ihm. DEN Gefallen tat er Ihnen bis heute nicht, weil er aus der Geschichte etwas gelernt hat und weil er großzügig und freundlich ist.“ Sina: „Pffft!“ „Und das wollen Sie natürlich erst recht nicht zugeben. Sie wollen nicht zugeben, dass Sie gerne hier leben und dass Sie gerne Biologie studieren würden, damit sich der Großvater bloß nicht freuen kann – aber SIE eben auch nicht.“ Sina: „Jetzt sagen Sie bloß noch, dass ich zur Abtreibung gehe, damit ich ihn bestrafe!“ „Genauso ist es! Ich bin froh, dass Sie das verstanden haben! Die einzige Frage, die sich jetzt noch stellt: Wenn Sie jetzt zur Abtreibung gehen, haben Sie BEWIESEN, dass SIE sich schlimmer verhalten als der Großvater. Sie werden danach von hier weggehen und ihn alleine lassen ('das hast Du nun davon'). Bevor Sie gehen, setzen Sie ihren letzten Schuss: Sie werden ihm sagen, dass er Schuld an der Abtreibung trägt (wegen der alten Muttergeschichte).“ Eine Stille entstand. Bis wir fortfuhren: „Nach eingehender Prüfung kann er sich aber sagen: DARAN bin ich vollkommen unschuldig. Darin hat er völlig Recht, auch wenn er einsam sein wird. Aber er ist nicht schuld, definitiv nicht. Wenn Sie dann weg sind, werden Sie ihn wieder vermissen, so wie in der Kindheit – UND Sie werden zusätzlich Ihr Kind vermissen. Spätestens dann stellen Sie fest: Die ganze Strafaktion ist ins Leere gelaufen. Sie haben es der Welt, dem Großvater und ja, auch der Mutter gezeigt, aber eben nicht als gerechte Bestrafungsaktion, sondern nur: 'ich bin ein schlechterer Mensch als mein Großvater' – und damit haben Sie ihn nach vielen Jahren entlastet.“ Sina weinte und nickte immer wieder. Unser Vorschlag, diesen Wahnsinnsweg gar nicht erst zu gehen, sondern ihn endlich mit in die Verantwortung zu nehmen, wäre erkennbar für alle Beteiligten die Rettung. Und die Retterin wäre sie selbst. Das sei doch eine ganz andere Rolle. Sina ging nicht zur Abtreibung – und um erst einmal wieder neu zu überlegen („ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben“), mieteten wir eine kleine Wohnung für sie an (im Osten Deutschlands war das kein Problem). Unmittelbar vor der Geburt hatte sie ihre Wut besiegt und zog wieder bei ihm ein.



Bild oben von 28703 auf Pixabay Bild unten von bryandilts auf Pixabay

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